Schutzhäftling 880 (1935)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Schutzhäftling 880
Autor Massing, Paul Wilhelm (1902-1979)
Genre Roman

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1935, Paris
Titel Schutzhäftling 880
Untertitel Aus einem deutschen Konzentrationslager

Erscheinungsort Paris
Erscheinungsjahr 1935

Verlegt von Editions du Carrefour

Publiziert von Massing, Paul Wilhelm (1902-1979)
Umschlaggestaltung von Heartfield, John (1891-1968)

Umfang 196 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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Zusammenfassung

In seinem im Untertitel als Roman gekennzeichneten Werk widmet sich Paul Wilhelm Massing unter dem Pseudonym Karl Billinger seiner Haftzeit im Berliner Columbia-Haus ab Juli 1933 sowie der anschließenden Inhaftierung im Konzentrationslager Hubertushof bis Dezember 1933.

Der Ich-Erzähler Billinger, der in führender Position an der illegalen Arbeit der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gegen die Nationalsozialisten beteiligt ist, wird am 17. Juli 1933 von zwei Gestapo-Beamten in Berlin verhaftet. Zuvor wird seine gesamte Wohnung durchsucht, was er lapidar beschreibt: „Die Bullen durchsuchten zwei Stunden lang die Wohnung, durchschnüffelten die Bibliothek, schraubten die Klosettbrille ab, siebten die Asche des Küchenherdes, leerten den Abfalleimer aus und liessen eine Tüte Salz in einen Topf laufen. […] [I]ch verfolgte die ganze Prozedur unbeteiligt, als hätte ich nichts damit zu tun“ (S. 10f.). Obwohl sie nichts Auffälliges finden können, da Billinger kurz vor seiner Verhaftung wichtige Dokumente über die illegale Arbeit der KPD im Zimmerofen verbrannt hat, wird er per U-Bahn in die Prinz-Albrecht-Straße 8 in das Hauptquartier der Gestapo gebracht. Nach dem Verhör muss er zusammen mit anderen Verhafteten in einer Reihe warten: „So standen wir bis abends 7 Uhr, manche seit 4 Uhr nachts, ununterbrochen in ‚strammer Haltung‘, Knie durchgedrückt, Hacken zusammen, den Blick stier auf die weisse Kalkwand gerichtet. Um nicht schwindlig zu werden, suchte ich mir einen kleinen schwarzen Punkt aus, an dem sich meine Augen festhalten konnten. Ohne sehen zu können, was hinter uns vorging, erlebten wir so die ersten Erziehungsmassnahmen des Dritten Reiches“ (S. 17). Nach dieser Tortur wird er zusammen mit anderen Gefangenen in einen Polizeilastwagen gesperrt und abtransportiert. Billinger wird in das sogenannte Columbia-Haus gebracht, wo er unter Folter ein zweites Mal verhört wird. Unter Schlägen und Tritten der SS-Wachen wird er schließlich als Häftling Nr. 880 in seine Zelle gebracht. 28 Tage lang ist er nun ständigen Demütigungen und Folterungen durch die SS ausgeliefert. Er beschreibt in seinem Erinnerungsbericht zahlreiche Vorfälle, die er entweder mit ansieht oder am eigenen Leib erfahren muss. Unter anderem erhält er 50 Peitschenhiebe: „In einer Sekunde lag ich entblösst über dem Tisch, vier Mann hielten mich, drei Mann schlugen. Beim ersten Hieb glaubte ich an die Decke zu fliegen, der ganze Körper krampfte sich zusammen. Gegen meinen Willen stiess ich einen furchtbaren Schrei aus. Dann kam der zweite, der dritte, der vierte Hieb. Nicht schnell, immer in Abstand, so dass ich nicht die Besinnung verlor [...]. Ich hatte nur noch eine brennende Sucht: tot zu sein, nur tot, nur tot, Schluss, Schluss. Mein Körper wurde mir fremd, ich empfand die Hiebe nur noch als dumpfe Detonation in meinem Kopf“ (S. 29).

Neben den vielen Misshandlungen berichtet Billinger auch von der Solidarität eines ehemaligen Genossen Hans, den er aus der illegalen Arbeit kennt und der nach einigen Tagen in seine Zelle verlegt wird. Hans organisiert etwa einen Strohsack und Decken für ihn und erklärt ihm, wie er die ‚Hausordnung‘ einhalten muss. „Ich weiss nicht, was ohne Hans aus mir geworden wäre. Er nahm der Hölle einen Teil ihrer Schrecken, indem er mir ihren Mechanismus erklärte“ (S. 39), heißt es im Bericht.

Eines Nachts wird er aus seiner Zelle geholt und in das Gefängnis Plötzensee gebracht, von wo aus er am 15. August 1933 in das Konzentrationslager Hubertshof verbracht wird. Er beschreibt die Ankunft und die Aufnahmeprozedur im Lager, bei der unter anderem sein Gewicht notiert wird. Ironisch bemerkt er dazu: „Es ist mir kein Fall bekannt, dass Häftlinge im Lager diesen offiziellen Ausweisen nach an Gewicht verloren hätten“ (S. 48). Massing schildert den militärischen Drill der Häftlinge sowie die Schikanen und Misshandlungen seitens der Wachleute. Er wird zunächst dem Außenkommando ‚Deich II‘ zugeteilt, kann jedoch bald dank der Hilfe eines Genossen in einem besseren Arbeitskommando unterkommen.

Drei Wochen nach seiner Einlieferung wird Billinger zum Verhör gerufen und stellt erleichtert fest, dass die SA so gut wie keine Informationen über ihn und seine illegale politische Tätigkeit hat: „Mir fiel ein Stein von der Brust. Die Genossen, mit denen ich zusammengearbeitet hatte, waren nicht hochgegangen oder hatten nicht ausgesagt“ (S. 97f.). Dennoch wird er erneut schwer misshandelt: „In der Nacht schwollen die geschlagenen Körperstellen stark an, unter den Achseln bildeten sich Hautsäcke, und ich hatte kaum noch Kontrolle über die Bein- und Rückennerven“ (S. 99).

Der Ich-Erzähler schildert Streitigkeiten und Unterschiede zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Ebenso erörtert er den Unterschied zwischen ‚Arbeitern‘ und ‚Intellektuellen‘ im Lager und den jeweiligen Blickwinkel der Gruppen auf die SS. Während die Arbeiter durch „die schwarze SS-Uniform hindurch den Sohn des verschuldeten Gastwirts Schärer aus Niederwellingen, den abgebauten Hilfskassierer der Städtischen Sparkasse von Frunsbüttel“ (S. 105) sehen, erscheint den Intellektuellen der Faschismus „wie eine undurchdringliche Wand, die sie umklammert hielt, ein Ungeheuer, in dessen Fratze keine menschlichen Züge zu entdecken waren“ (ebd.). So löst sich die Abstraktion Faschismus für die Arbeiter in konkrete Teile auf: „dreckiges Fressen, Verhör, Gummiknüppel, Bunker, Zwangsarbeit, SS“ (ebd.).

Die Wahlen zum Reichstag am 12. November 1933 lösen ein moralisches Dilemma bei den Häftlingen aus. Nachdem sie erfahren, dass sie wählen dürfen, entbrennt eine Diskussion darüber, wie sie stimmen sollen. Am Ende kommt es zu keiner Einigung. Die Wahlen ergeben schließlich eine klare Mehrheit der Ja-Stimmen, aber auch 13 Prozent Nein-Stimmen und 22 Prozent leere Zettel. Die Atmosphäre ist geladen: „Die Spitzel denunzierten Genossen, sie hätten mit ‚Nein‘ gestimmt und andere in gleichem Sinne beeinflusst. Es wurde viel geschlagen. Die Bunker waren voll“ (S. 152).

Billinger erfährt aus der Zeitung von Gnadenaktionen, bei denen Häftlinge aus den KZ entlassen werden. Dies versetzt die Häftlinge in große Unruhe und Hoffnungen. Billinger erhält Besuch von ‚Anna‘, einer Freundin, die sich als seine Lebenspartnerin ausgibt. Sie berichtet ihm, dass sie alles Verdächtige aus seiner Wohnung entfernen konnte und sogar seine Möbel gerettet habe, bevor die Wohnung weitervermietet wurde. Wenige Tage später – kurz vor Weihnachten – wird sein Name als einer von 58 aufgerufen, die aufgrund der Gnadenaktion am nächsten Tag entlassen werden sollen. Am Abend verschenken viele der entlassenen Häftlinge ihre Weihnachtspakete und verteilen sie unter denen, die weiterhin im KZ bleiben müssen. Am nächsten Morgen durchläuft Massing die übliche Entlassungsprozedur. Alle werden gewogen: „Jeder hatte zugenommen“ (S.175), kommentiert Massing trocken. Er verpflichtet sich, nie wieder gegen die nationalsozialistische Regierung zu arbeiten und jegliche Ansprüche auf Ersatz von Schäden oder Verlusten, die er während der Schutzhaft erlitten hat, fallen zu lassen.

Billinger kehrt nach Berlin zurück. Er kommt bei den Genossen Georg und Anna unter. Schon am Tag nach seiner Entlassung trifft er sich mit seinem alten Parteigenossen Hans, um wieder in die illegale Arbeit einzusteigen. Er plant außerdem mit ihm, wie im Lager versprochen, einem Mithäftling, der ‚Schieber‘ genannt wird, bei der Flucht zu helfen. Der Bericht endet mit der gelungenen Befreiung und Flucht des ‚Schiebers‘ über eine im Text nicht näher verortete Grenze: „Als er zwanzig Schritte weg war, wandte er sich um und grüsste mit der geballten Faust“ (S. 194).

Der Roman ist den „Kameraden in den deutschen Konzentrationslagern gewidmet“ (o.S.).

Biografie

Paul Wilhelm Massing (geb. 30.08.1902 in Grumbach, gest. 30.04.1979 in Tübingen) wurde als viertes Kind des Katasterkontrolleurs Wilhelm Ludwig Massing und seiner Frau Clara geboren. Er besuchte die Volksschule in Grumbach, anschließend die Lateinschule in Meisenheim und ab 1919 das Staatliche Realgymnasium in Bad Kreuznach, wo er 1923 die Reifeprüfung ablegte. Nach einjähriger Lehrzeit in einer Fabrik in Köln-Nippes und dem Besuch der Handelshochschule in Köln studierte Massing anschließend ab 1923 Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Handelshochschule in Frankfurt am Main sowie zusätzlich an der Kölner Handelshochschule, wo er 1926 als Diplom-Kaufmann abschloss. 1927 studierte er ein Semester lang an der Sorbonne in Paris. 1928 kehrte er nach Frankfurt zurück und promovierte über „Die landwirtschaftlichen Bedingungen Frankreichs im 19. Jahrhundert und das Agrarprogramm der Französischen Sozialisten“.

Bis 1931 arbeitete Massing in Moskau am Internationalen Agrarischen Institut. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er bis 1933 aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in Berlin und Mitarbeiter des Zentralkomitees. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er verhaftet und im Columbia-Haus in Berlin gefoltert. Danach wurde er fünf Monate lang in Einzelhaft im Konzentrationslager inhaftiert. Nach seiner Entlassung floh er über Paris in die USA, kehrte jedoch zeitweise illegal nach Deutschland zurück, wo er für die KPD aktiv war. Die Moskauer Schauprozesse, bei denen hohe russische Parteifunktionäre wegen angeblich staatsfeindlicher Aktivitäten angeklagt und hingerichtet wurden, führten bei ihm in den Jahren 1936 bis 1938 zu einem Bruch mit dem russischen Kommunismus. 1936 heiratete er seine erste Ehefrau Hede Gumpertz Eisler. 1939 emigrierte er endgültig in die USA, wo er eine Zeit lang mit seiner Frau eine Farm in Quakertown in Pennsylvania betrieb.

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs schrieb Massing ein Buch über Adolf Hitler mit dem Titel „Hitler is no fool“, worin er auf dessen gefährliche Vernichtungspläne hinwies. 1942 lehrte er am Sozialforschungsinstitut der Columbia University in New York City und ab 1948 politische Soziologie an der Ruthers University in New Jersey. 1949 erschien in New York sein wohl bedeutendstes Werk „Rehearsal for Destruction: A Study Of Political Anti-Semitism in Imperial Germany“, das 1959 auch auf Deutsch unter dem Titel „Vorgeschichte des politischen Antisemitismus“ mit einem Vorwort von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno publiziert wurde. 1954 heiratete Paul Massing die Sozial- und Kommunikationsforscherin Herta Herzog. 1977 kehrten Massing und seine Frau nach Deutschland zurück.

Quellen:

Werkgeschichte

Paul Wilhelm Massing publizierte seinen Roman „Schutzhäftling 880“ unter dem Pseudonym Karl Billinger. Er veröffentlichte das Werk 1935 kurz nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager gleichzeitig auf Deutsch in Paris in der Edition du Carrefour und in Moskau in der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter. Übersetzungen erschienen im gleichen Jahr ins Dänische und vermutlich auch ins Norwegische. 1936 wurde eine russische Übersetzung in Moskau herausgegeben. In Deutschland wurde 1978 im Münchener Verlag Rogner und Bernhard eine weitere Ausgabe des Buchs herausgegeben.

Im „Pariser Tagblatt“ erschien im April 1935 eine Besprechung des Werks. „Angesichts der Fülle der Konzentrationslagerbücher“ (S. 4) werde „es langsam schwer zu unterscheiden und zu differenzieren“ (ebd.), heißt es darin. Massings Roman über die Schutzhaft füge in das Bild „von jener uns im letzten unbekannten Welt neue Episoden und Erlebnisse. [...] Ein Dasein fern von aller Menschlichkeit, ein im Grunde atavistischer Zustand wird hier mit kräftigen Farben geschildert. Es ist ein Verdienst des Buches von Billinger, dass es trotz der politisch pointierten Ueberzeugung des Verfassers nicht in allzu bequeme schwarz-weiss-Malerei verfällt, sondern eine reale Vorstellung von den Konflikten, von Abneigungen und Sympathien vermittelt“ (ebd.).

Auch in der „Sozialistischen Warte“ erschien im Juli 1935 eine Rezension des Buchs. Es sei ein „Bericht aus einem Konzentrationslager, wie wir nun schon mehrere kennen“ (S. 167), heißt es darin. Was diesen besonders interessant mache, sei die Darstellung der „Auflockerung jener sklavischen Disziplin, die das braune und schwarze Heer der SA und SS zu einem so wirkungsvollen Stützpunkt für die Faschisierung gemacht hat“ (ebd.). Das Buch sei lebendig und in der Hauptsache wohl ohne Übertreibung geschrieben, heißt es weiter.

Quellen:

  • o.A.: „[Rezension]“. In: Pariser Tageblatt, 07.04.1935, Bd. 3, Nr. 481, S. 4.
  • o.A.: [Rezension]“. In: Sozialistische Warte, 07/1935, Bd. 10, Nr. 7, S. 167.




Bearbeitet von: Charlotte Kitzinger