Prozess ohne Richter (1937)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Prozess ohne Richter
Autor Brentano, Bernard von (1901-1964)
Genre Roman

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1937, Amsterdam
Titel Prozess ohne Richter

Erscheinungsort Amsterdam
Erscheinungsjahr 1937

Verlegt von Querido Verlag N.V.
Gedruckt von N.V. Drukkerij G. J. Thieme
Publiziert von Brentano, Bernard von (1901-1964)

Umfang 201 Seiten

Bibliotheksnachweise UBGI-icon.gif UB Gießen (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
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Zusammenfassung

Bernard von Brentano stellt in seinem Roman das von Angst und Misstrauen geprägte gesellschaftliche Klima in Deutschland vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges dar. Die Entwicklung und Eskalation der Ereignisse wird anhand der fiktiven Biographie von Klitander, Mathematikprofessor an einer Universtität, dargestellt. Im Mittelpunkt steht das bürgerliche Leben, welches Klitander mit seiner Frau Fine, einer ausgebildeten Konzertpianistin, führt und das aufgrund von Klitanders Verhaftung und Deportation aus den Fugen gerät. Der Konflikt tritt hier als zentrales Thema auf, nicht nur zwischen Klitander und der Regierung, sondern auch zwischen ihm und Fine und, auf einer abstrakteren Ebene, zwischen dem bürgerlichen Lebensentwurf Klitanders und der damit verbundenen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie seiner Verhaftung, Deportation und Isolation.

Die Situation eskaliert, als Klitander von der gleichgeschalteten Regierung beauftragt wird, ein Gutachten über den Leistungsstand der Abiturienten sowie über die Lehrkräfte am örtlichen Gymnasium zu erstellen. Anlass sind schulische Leistungen, die von der Regierung als nachlassend empfunden werden. Entgegen der Ratschläge seiner Kollegen und seiner Ehefrau, die Leistungen, wie es die Regierung verlangt, zu bemängeln, verfasst Klitander ein objektives Gutachten. Er beobachtet Schüler während einer mündlichen Abiturprüfung und bescheinigt ausreichende Kenntnisse. Diese Haltung wird von der gleichgeschalteten Regierung als regierungsfeindlich angesehen. Klitander wird öffentlich als „Kadaver an Idiotie“ (S. 101) beschimpft und von seiner Lehrtätigkeit suspendiert. Klitander und Fine sind ab diesem Zeitpunkt der sozialen Isolation ausgesetzt; beide verlassen ihre Wohnung nicht mehr und Klitanders Gesundheitszustand verschlechtert sich dramatisch.

Im weiteren Verlauf des Romans wird Klitander verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert. Als Fine irrtümlich die Nachricht erhält, ihr Mann sei im Konzentrationslager gestorben, verdächtigt sie Klitanders Kollege Professor Alzest, für die Verhaftung verantwortlich zu sein und ermordet aus Rache und Trauer dessen Ehefrau. Klitander erfährt von der Ermordung durch einen Mithäftling und nimmt sich im Konzentrationslager das Leben.

Von Brentano schildert im Roman sowohl die äußeren Entwicklungen, das heißt die zunehmende Radikalisierung der Regierung, als auch die inneren Vorgänge, die Auswirkungen von Ausgrenzung und Isolation auf Klitanders psychischen Zustand. Um dies im Text darzustellen bedient sich der Autor einiger narrative Elemente, die zur subtilen Darstellung des Handlungsverlaufes beitragen. Die Handlung ist nicht konkret lokalisiert, Ortsangaben beschränken sich auf Straßennahmen und auch Institutionen werden nicht genauer beschrieben. So heißt es etwa nur „die Universität“ (S. 7) und „das Krankenhaus“ (S. 135). Ebenfalls werden weder Deutschland noch das NS-Regime explizit genannt, vielmehr ist die Rede von „unserem Land“ (S. 43) und „die Regierung“ (S. 23). Diese Anonymität erzeugt eine Atmosphäre der allgegenwärtigen Gefahr, was durch die Symbolik im Text weiter ergänzt wird. Der Autor beschreibt ausführlich Landschaftsszenen, in denen die beginnende Kälte nicht nur auf die Jahreszeit (Herbst) zurückzuführen ist, sondern auch auf das soziale Klima in der Stadt anspielt: „ein in seiner Farbe sehr verdünnter Himmel“ (S. 7), „ein leichter Dunst dünnen Nebels über der Stadt“ (S. 15). Ebenfalls ist das Motiv der Vergänglichkeit ein zentraler Punkt, der sowohl durch die Symbolik des Herbstes, aber auch anhand von Klitanders Biografie nachvollzogen wird.

Des Weiteren integriert der Text Anspielungen auf die zugespitzte politische und gesellschaftliche Lage, ohne jedoch die Gefahr explizit zu benennen. Brisanz erhält die Geschichte vielmehr durch die Struktur der Erzählsituation: Der Erzähler erweckt den Eindruck, er habe eine Biografie verfasst, durch die er das Schicksal Klitanders dokumentiert: „Ich habe aber seine Geschichte aufgeschrieben, denn Klitander war ein Mensch“ (S. 201). Da im Text konkrete Orts- und auch Zeitangaben fehlen, ist diese Bemerkung umso zentraler, da Klitanders Biografie, wenn auch fiktiv, nicht konkret verortet ist und in jeder Stadt denkbar wäre.

Ein weiteres Mittel sind intertextuelle Referenzen, die von Brentano in seinen Roman einfließen lässt. So sind Zitate von Laotse und Niels Bohr dem Roman vorangestellt und führen in die Problematik der fehlenden Gerechtigkeit und Sinnlosigkeit des Lebens (vgl. Niels Bohr) sowie Ausgrenzung und Einsamkeit (vgl. Laotse) ein. Ebenfalls wird ein Auszug aus Hugo von Hofmannsthal, „Der Tod und der Tod“ (S. 107) zitiert, anhand dessen Klitander die Ausweglosigkeit seiner Lage begreift. Mit weiteren Anspielungen auf Beethoven, Chopin und Liszt (S. 30f.) positioniert sich Brentanos Roman in der 'Hochkultur' und lässt dadurch die Entwicklung und den Fall Klitanders umso drastischer erscheinen.

Von Brentano bedient sich ebenfalls wechselnder Fokalisierungsebenen, um die Eskalation aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Obwohl der Erzähler eine Außenperspektive der Geschehnisse liefert, wechselt die Wahrnehmung, sodass Emotionen sowohl von Fine als von Klitander mittels erlebter Rede nachempfunden werden können. An diese wechselnden Innenperspektiven schließen sich Halluzinationen von Klitander, er säße einem Richterkollegium gegenüber, an. Diese sind Ausdruck seines sich stetig verschlechternden Gesundheitszustandes. Das imaginäre Richterkollegium nimmt ebenfalls Bezug auf den Titel des Romans, „Prozess ohne Richter“, da Klitander sich in seiner Isolation und Verzweiflung buchstäblich in einem Prozess ohne realen Richter befindet.


Biografie

Bernard von Brentano (geb. 15.10.1901 in Offenbach am Main, gest. 29.12.1964 in Wiesbaden) wurde als Sohn von Otto Rudolf und Lilla Beata von Brentano in ein finanziell unabhängiges, katholisch geprägtes Elternhaus geboren. Sein Vater war als Rechtsanwalt und Politiker tätig. Heinrich und Clemens, Bernards Brüder, hatten ebenfalls eine Position in der Politik inne: Clemens von Brentano wurde deutscher Botschafter in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg, Heinrich von Brentano Außenminister der Bundesrepublik Deutschland unter Konrad Adenauer. Im Gegensatz dazu studierte Bernard von Brentano Philosophie und Literatur in Freiburg, München, Frankfurt und schließlich Berlin. Eine erste Anstellung als Journalist bei der „Frankfurter Zeitung“ in Berlin erhielt Brentano 1925 durch Kontakte zu Joseph Roth, wechselte jedoch 1930 zum „Berliner Tagesblatt“ unter Theodor Wolff. Ebenfalls unterstützte er die Literaturzeitschrift „Die Linkskurve“, die vom „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ (BPRS) herausgegeben wurde.

Neben seiner journalistischen Tätigkeit äußerte Brentano bereits in seiner Kindheit und Jugend großes Interesse an einer schriftstellerischen Karriere, was jedoch von seinen Eltern nicht gefördert wurde. Dennoch veröffentlichte der Schöningh Verlag in Paderborn 1925 den Band „Gedichte an Ophelia“ sowie die Komödie „Geld“, die 1927 in Darmstadt als Uraufführung Premiere feierte. 1930 erscheinen unter dem Titel „Kapitalismus und schöne Literatur“ ursprünglich in der „Frankfurter Zeitung“ publizierte Essays und Rezensionen. 1932 wird „Über den Beginn der Barbarei in Deutschland“, auch als „sozialökonomische Reportage“ (Gregor-Dellin, S. 108) betitelt, veröffentlicht. Hier äußert sich von Brentano kritisch über den wachsenden Antisemitismus und den Terror der Nationalsozialisten.

Die Jahre 1930 und 1932 sind ebenfalls von Reisen Brentanos nach Moskau geprägt. Dort erlebt er Gewalt und Korruption, was dazu führt, dass er sich später als vehementer Gegner des Stalin-Regimes und des Marxismus engagiert. Neben Bertholt Brecht und Heinrich Mann war Bernard von Brentano ebenfalls (auf Initiative von Heinrich Mann) seit 1920 Mitglied im P.E.N.-Club und stand in engem Austausch mit der „Gruppe 1925“, einem Zirkel von Schriftstellern und Intellektuellen, die sich dem linken politischen Milieu zuordneten. Diesen Kontakt, insbesondere zu Brecht und Mann, behielt von Brentano auch im Exil bei. Den Entschluss, Deutschland aufgrund der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zu verlassen, traf Bernard von Brentano zusammen mit befreundeten Schriftstellern und Intellektuellen. Im März 1933 reiste er mit seiner zweiten Ehefrau Margot Gerlach (eine erste Ehe mit Marie Elisabeth Freiin von Esebeck war 1922 geschieden) über München und Wien nach Zürich. Dort wurde am 6. August 1933 sein Sohn Georg Michael geboren. 1934 übersiedelte die Familie schließlich nach Küsnacht am Zürichsee.

Schriftstellerisch und journalistisch produktiv blieb Brentano auch im Exil, es erschienen Beiträge in „Die Neue Zürcher Zeitung“, „Die Neue Schweizer Rundschau“, die „Tat“ sowie die „Nationalzeitung“. Ebenso wurden die Werke „Berliner Novellen“ (1934), „Theodor Chindler“, „Roman einer deutschen Familie“ (1936), „Prozess ohne Richter“ (1937), „Die ewigen Gefühle“ (1939), „Tagebuch mit Büchern“ (1943), „Franziska Scheler“ (1945), das Drama „Phädra“ (1947) sowie „Die Schwestern Usedom“ (1948) veröffentlicht. Unter der Bezeichnung „Ecole de Zurich’ fand sich außerdem erneut ein Zirkel, bestehend aus Rudolf Jakob Humm, Fritz Brupbacher, Ignazio Silone und Bernhard von Brentano, zusammen. Von Brentanos Austausch mit befreundeten Schriftstellern und Intellektuellen blieb jedoch nicht ohne Spannungen. Eine Debatte mit Bertolt Brecht, in welcher sich Brentano gegen die Kommunistischen Parteien aussprach, da er befürchtet, diese würden seine „individuelle Freiheit“ einschränken, führt zum Bruch mit Brecht. Ebenso bezeichnet er den Roman „Der Kopflohn“ von Anna Seghers als „faschistischen Roman“ (Hessler, S. 213). 1949 kehrte Bernard von Brentano mit seiner Familie aus dem Exil zurück und zog mit seiner Familie endgültig zurück nach Wiesbaden, nachdem er bereits 1947 zweimalig nach Deutschland gereist war, um bei der Uraufführung von „Phädra“ in Darmstadt anwesend zu sein. Aufgrund seiner Arbeit sowohl als Schriftsteller als auch als Journalist wurde ihm die Goethe-Medaille verliehen. Ebenso wird er als Mitglied in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt aufgenommen. Er hielt ebenfalls bis zu seinem Tod 1964 Vorträge und Lesungen bei den „Wiesbadener Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung“.

Quellen:

  • Brentano, Bernard von: Prozess ohne Richter. Amsterdam 1937.
  • Gregor-Dellin, Martin: „Nachwort“. In: Brentano, Bernard von: Prozess ohne Richter. Frankfurt am Main 1978, S. 107-114.
  • Hessler, Ulrike: „Bernard von Brentano (1901-1964). Ein deutscher Schriftsteller ohne Deutschland“. In: Heidenreich, Bernhard (Hg.): Geist und Macht. Die Brentanos. Wiesbaden 2000, S. 197-233.
  • "Dossier der Fremdenpolizei zu Bernard von Brentano". In: Schweizerisches Bundesarchiv, E 4301, 1992/36_156.
  • o.A.: „So eine Familie". In: Der Spiegel (1951), Nr. 13, S. 28. Online: https://web.archive.org/web/20170427111754/http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-29193613.html (Stand: 28.12.2021)


Werkgeschichte

Der Roman entstand 1937, als sich von Brentano in Küsnacht am Zürichsee im Exil befand und wurde im gleichen Jahr erstmals in Amsterdam herausgegeben. Weitere Auflagen folgten 1947 in Wiesbaden im Limes Verlag sowie 1978 in Frankfurt am Main bei Suhrkamp. Den Impuls der Brentano-Poetik, den Leser durch literarische Darstellung nicht nur zu informieren, sondern diesen auch aufzurütteln, greift Alfred Otto Stolze in seiner Rezension in „Welt und Wort“ auf. Brentanos Roman fungiere als Medium, „geeignet aufs schärfste, vor jeder Art von Despotie zu warnen“ (Otto Stolze, S. 111). Hierbei, so Stolze, liege der Fokus vor allem auf den inneren, psychischen Vorgängen und Entwicklungen, wodurch die äußere Handlung jedoch Gefahr laufe, „etwas zu grell“ zu erscheinen. An diese zweigeteilte Reaktion schließen sich weitere Rezensionen an. Zwar beschreibt Manuel Grasser „Prozess ohne Richter“ als „unerbittliche Art der Darstellung“ (Gregor-Dellin, S. 113), der durchkonstruierte Plot klinge an einen Kriminalroman an. Konrad Heiden äußert sich jedoch kritischer, indem er von Brentanos Roman eine „tiefe Schönheit“ (ebd., S. 110) zugesteht, jedoch auch von einer „Absonderlichkeit“, einem „Kunstfehler“ spricht (beide Zitate, ebd.). Heiden spielt hier auf die Namen der Protagonisten (Klitander, Alzest, Oront) an, die intertextuell auf Molières „Misanthrope“ und somit auf Goethe und Lessing verweisen. Dies empfindet er als unpassend im Rahmen von „Prozess ohne Richter“. Alfred Döblin schließt sich ebenfalls an die kritische Haltung Heidens an und bemängelt vor allem das Ende und die sprachliche Gestaltung. Jedoch gesteht er von Brentano zu, eine „furchtbar reale Welt im Spiegel eines Wassertropfens“ (ebd. S. 111.) erschaffen zu haben. Diesem Tenor schließt sich ebenfalls eine Rezension in „Athena“ an; der Rezensent E.K. sieht von Brentanos Leistung besonders darin, „die ganze abgründige Demonie [sic] dieses totalitären Systems“ (E.K., S. 101) darzustellen und dennoch die Handlung „wie absichtslos“ (ebd.) in den Roman einzubetten.

Weiterhin hebt Ludwig Marcuse die sprachliche Gestaltung des Romans hervor, „trotzdem ist diese Erzählung [...] nicht ohne Reiz: nicht nur in der Darstellung des Milieus und eines seiner traurigen Produkte, sondern auch in der Sprache, die in ihrer Unglätte erfrischend wirkt“ (S. 87). Jedoch kritisiert er, wie Heiden und Döblin, das Ende des Romans als „farblosen Freitod“ (ebd.). Wie Martin Gregor-Dellin weiterhin anführt, wurde in der zeitgenössischen Rezeption von „Prozess ohne Richter“ eine etwaige Bezugnahme auf Franz Kafka nicht diskutiert, da die Kafka-Rezeption zum damaligen Zeitpunkt selbst erst begonnen habe. Dennoch, so Gregor-Dellin, ließen sich in der atmosphärischen Gestaltung und Bedrängnis des Romans „Kafkaeske Züge“ (Gregor-Dellin, S. 112) finden.

Quellen:

  • Gregor-Dellin, Martin: „Nachwort“. In: Brentano, Bernard von: Prozess ohne Richter. Frankfurt am Main 1978, S. 107-114.
  • Hessler, Ulrike: „Bernard von Brentano (1901-1964). Ein deutscher Schriftsteller ohne Deutschland“ In: Heidenreich, Bernhard (Hg.): Geist und Macht. Die Brentanos. Wiesbaden 2000, S. 197-233.
  • Stolze, Alfred Otto: "Rezension zu 'Prozess ohne Richter'". In: Welt und Wort – Literarische Monatszeitschrift (1948), Nr. 3, H. 4, S. 111.



Bearbeitet von: Lisa Beckmann