Warum schweigt die Welt? (1936)

Aus Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949
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Angaben zum Werk

Titel Warum schweigt die Welt?
Autor Bernhard, Georg (1875-1944), Franck, Wolf, Iwo, Jack, Jacob, Berthold (1898-1944), Kantorowicz, Alfred (1899-1979), Leonhard, Rudolf (1889-1953), Ossietzky, Carl von (1889-1938), Westheim, Paul (1886-1963)
Genre Textsammlung

Ausgaben des Werks

Ausgabe von 1936, Paris
Titel Warum schweigt die Welt?

Erscheinungsort Paris
Erscheinungsjahr 1936
Auflage 1
Auflagen insgesamt 1

Verlegt von Éditions du Phénix
Gedruckt von Imp. Haloua
Publiziert von Bernhard, Georg (1875-1944), Franck, Wolf, Iwo, Jack, Jacob, Berthold (1898-1944), Kantorowicz, Alfred (1899-1979), Leonhard, Rudolf (1889-1953), Ossietzky, Carl von (1889-1938), Westheim, Paul (1886-1963)

Herausgegeben von Anonym
Umfang 64 Seiten

Preise 3 Franc
Bibliotheksnachweise DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Print-dnb-icon.gif gedruckte Ausgabe)
DNB-icon.gif Deutsche Nationalbibliothek (Online-dnb-icon.gif elektronische Ausgabe)


Zusammenfassung

Um das Schweigen der Welt über das Leid der politisch Verfolgten in Deutschland zu brechen, sammelt die anonym herausgegebene Broschüre Essays, Gedichte und Zeitungsartikel verschiedener verfolgter Autoren. Die stilistisch stark unterschiedlichen Texte beschäftigen sich mit der Situation in Deutschland, den Gründen für das Ausbleiben einer internationalen Reaktion auf die Gewalt im NS-System oder der medialen Berichterstattung über juristische Prozesse wie gegen Berthold Jacob. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Schicksal von Carl von Ossietzky, von dem ebenfalls Schriften abgedruckt sind.

Bereits im Vorwort versucht Georg Bernhard, der Begründer des „Pariser Tageblatts“, die Leser mit einer emotionalen und deutlichen Sprache aufzurütteln. So konstatiert er: „Die Entrüstung des Anfangs ist völligem Schweigen gewichen, das nur ab und zu noch durch den Aufschrei der Opfer unterbrochen wird. Selbst das Echo auf diese Schreie gepeinigter Seelen ist seit Monaten fast völlig erstorben. […] Warum reagiert die Welt so? Warum schweigt sie wirklich zu alledem?“ (S. 4) Die Gründe dafür sieht er in der Traumatisierung der Menschen durch den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise. Durch die selbst erlebte Not seien die Menschen „abgestumpft“, „ihre Seele[n] verstock[en] gegen fremdes Leid“ (beide Zitate S. 4f.). Das Ausland schweige vor allem, da es die Souveränität Deutschlands nicht verletzen wolle und daher eine Einmischung in innenpolitische Belange ablehne. Die Brutalität des Regimes sei zudem so von „seelische[r] Perversion, sadistische[r] Freude an Torturen, Neid, Habsucht“ (S. 6) geprägt, dass das Ausmaß im Ausland gar nicht zu glauben sei. Jedoch unterschätzten die Menschen dort das System, denn am Ende werde sich die nationalsozialistische Politik auch gegen sie wenden, so die Prognose Bernhards.

Die eigentliche Textsammlung beginnt mit einem Bericht Berthold Jacobs, der als Journalist Zeuge von Folterungen im Berliner Columbia-Haus wurde. Im daran anschließenden Essay „Schweigen bedeutet Zustimmung zur Barbarei“ (S. 11-15) zeigt Jack Iwo die Parallelen zwischen NS-Regime und historischen Ereignissen, wie der Vertreibung der Hugenotten durch Ludwig XIV, auf. Allerdings übersteige der Nationalsozialismus alles bisher Bekannte, da er kein Entkommen – etwa durch Konvertierung – erlaube. Auch Iwo warnt vor der Gefahr für die Welt, die zu willig Hitlers Versprechungen glaube.

Alfred Kantorowicz analysiert in seinem Text die Wirkung von Berichten über Einzelschicksale. Durch die Personifizierung der „Objekt[e] des Unrechts“ (S. 16) könne das in Deutschland herrschende Leid deutlich gemacht werden: „Hunderttausend Tote, eine Million Tote, das ist unvorstellbar. […] Das Beispiel eines Entführten, eines Misshandelten begreift jeder“ (S. 16f.). Auch die Nationalsozialisten bedienen sich in ihrer Propaganda einzelner Personen, um zum Beispiel durch die Darstellung eines Juden, der eine nichtjüdische Freundin hat, die Juden im Allgemeinen als ‚Rassenschänder‘ zu verunglimpfen. Kantorowicz' Sprache ist teilweise von Derbheit geprägt, wenn er zum Beispiel die Nationalsozialisten als „Afterprodukt[e]“ (S. 20) bezeichnet.

Paul Westheim nutzt in seinem einer Rede ähnlichen Text eine eloquente Sprache, um sehr strukturiert darzulegen, dass sich Länder wie die Schweiz nur für deutsche Häftlinge einsetzen, wenn ihre eigenen Interessen betroffen sind. Er fragt anklagend: „Wer kümmert sich um die Anderen, die Hunderttausende, die ohne Verletzung eines fremden Hoheitsrechtes den gleichen schändlichen Gestapo-Methoden zum Opfer gefallen sind?“ (S. 27) Während Westheim ausländische Mächte anklagt, nutzt Rudolf Leonhard sein Gedicht, um die deutschen Täter anzuprangern. Anklagend fragt das lyrische Ich in einem Brief an einen Bürgermeister, der für die Verhaftung eines jungen Mannes und dessen Tod verantwortlich ist: „Sie haben den Jungen in Hölle und Tod geschickt / Sie haben zufrieden hinter ihm her genickt / Sie wussten, wenn der Junge durchs Tor geht, / was ihm, wie seinen Genossen, bevorsteht / […] Herr Bürgermeister, schlafen Sie eigentlich gut?“ (S. 28) In einem weiteren Gedicht ruft Leonhard alle zum Reden über die Wahrheit auf, man dürfe nicht weiterhin über die Taten der Nationalsozialisten schweigen. Wolf Franck wählt den „Fall Jacob“ (S. 29) – die Verschleppung des pazifistischen Journalisten Berthold Jacob durch deutsche Gestapobeamte aus der Schweiz im März 1935 –, um in seinen komplexen und wortgewaltigen „Bemerkungen“ (ebd.), die einem philosophisch-psychologischen Traktat gleichen, die Notwendigkeit einer „anständigen Haltung“ (S. 33) des Einzelnen in der Haft darzustellen.

Die zweite Hälfte der Broschüre widmet sich speziell dem Schicksal Carl von Ossietzkys. Zunächst verfasst Alfred Kantorowicz eine Gegenantwort auf einen Artikel des Norwegers Knut Hamsun, der Ossietzky scharf kritisierte und ihn zu einer Antwort aufforderte. Ossietzky war zu diesem Zeitpunkt im Konzentrationslager Esterwegen inhaftiert und konnte sich nicht publizistisch äußern. Daher versammelt Kantorowicz Passagen aus Ossietzkys Artikel „Rechenschaft“, den dieser in der „Weltbühne“ am 10. Mai 1932 veröffentlicht hatte. Der Artikel, in dem Ossietzky sein Handeln erklärt, Kritik an den politischen Gerichtsprozessen und der Einmischung des Militärs in alle gesellschaftlichen und politischen Bereichen übt, wird in gesamter Länge am Ende des Buches abgedruckt. Das Schicksal Ossietzkys, der wegen angeblichen Landesverrats verhaftet wurde, wird in dem Artikel näher beleuchtet. Kantorowicz argumentiert eloquent und es fallen emotionale Begriffe wie „Vaterlandsliebe“, „Wahrheit“ oder „Freiheit“ (alle Zitate S. 41). Ossietzky sei bewusst nicht aus Deutschland geflohen, sondern habe sich mutig den Nationalsozialisten gestellt, weil er „als Eingesperrter am unbequemsten“ (S. 45) sei. Knut Hamsun wird von Kantorowicz direkt angesprochen: „Finden Sie nicht auch, Knut Hamsun, dass diese Haltung Respekt fordert?“ (S. 39) Mit seinem Appell verbindet Kantorowicz die Hoffnung auf die Bildung einer ‚Einheitsfront‘ von Kommunisten und Sozialdemokraten sowie eine Siegesgewissheit. Die Broschüre schließt mit einem Artikel Ossietzkys, den dieser nach seiner Freilassung 1936 für die „Weltbühne“ verfasste. Er dankt darin allen Unterstützern, erinnert an die unschuldigen Opfer und beteuert, dass der Kampf und die journalistische Arbeit der „Weltbühne“ weitergehen.

Alle Texte setzen thematische Vorkenntnisse des Lesers voraus. Durch die Tatsache, dass etwa der „Fall Jacob“ (S. 23) nur angesprochen, aber nicht näher erläutert wird, wird deutlich, dass die Broschüre sich an einen informierten, politisch links stehenden Leserkreis wendet.

Das Buch wurde – so Alfred Kantorowicz – „im Namen des befreiten Berthold Jacob“ (S. 43) verfasst und dient neben dem Aufruf an die Welt, nicht länger zu schweigen, dem Gedenken „all jener namhaften und namenlosen Opfer dieses Kampfes für Freiheit und Frieden und soziale Gerechtigkeit, die heute noch hinter den Gittern und Mauern der braunen Folterhöllen weiterleiden müssen“ (ebd.).

Werkgeschichte

Die Broschüre wurde in einer einmaligen Auflage in der Reihe „Phoenix-Bücher“ des Pariser Verlags Éditions du Phénix publiziert. Dieser im Oktober 1935 von Anselm Ruest und einem französischen Geldgeber gegründete Verlag hatte sich bis zu seiner Auflösung 1937 auf Schriften von Exilautoren spezialisiert. Diese wurden in schlichter Aufmachung in einer Auflage von 1500 bis 2000 Stück publiziert; die Bücher erschienen in unregelmäßigen Abständen. Berthold Jacob, Alfred Kantorowicz, Paul Westheim, Wolf Frank und Jack Iwo, die in dem Band durch mehrere Beiträge repräsentiert sind, hatten ihre Bücher bereits zuvor in der Reihe verlegt. Insgesamt waren 49 Titel geplant, jedoch wurden nur 13 veröffentlicht; der Text „Warum schweigt die Welt“ trägt die Nummer 25. Einige Druckfehler in den Beiträgen deuten auf die rasche Herstellung der Broschüre im Ausland hin. Als Herausgeber des Bandes wird in der Sekundärliteratur teilweise Berthold Jacob geführt, jedoch ist dies aus der Broschüre selbst nicht ersichtlich – dort tritt Jacob nur als Autor eines Textes auf.

Quellen:



Bearbeitet von: Christiane Weber